• Journalismus und Einblicke zweier Kulturen...

    „Los infames“: Auf den Spuren der Juden in Bolivien

    Libros Bolivia

    Los infames ist vor allem ein Buch voller Emotionen, Enthüllungen und beunruhigenden Erkenntnissen. Es sind keine optimistischen Seiten, weil das Buch die dunkle Seite der menschlichen Natur vorstellt: Die sehr schlechten, Los infames, sind und waren hüben und drüben und kommen ans Licht, ausgelöst durch Totalitarismus oder Ehrgeiz. Das könnte eine Lesart sein.

    Aber Verónica Ormachea, ehemals Journalistin und jetzt Schriftstellerin, zwingt uns zu vielen Lesarten, und das ist einer ihrer großen Verdienste. Wir sehen die Bolivianer mit dem Gesicht zum Zweiten Weltkrieg, indem das Leben des jüdischen Minenunternehmers Mauricio Hochschild herangezoomt wird – einem der drei Zinnbarone, der in den turbulentesten Zeiten des 20. Jahrhunderts sein Vermögen in Bolivien geschaffen hat. Sie greift dabei auf fiktive Charaktere zurück, die sie in reale Fakten kleidete und durch die literarische Vision mit einem perfekten Firniss aus Staub versah. Damit berührt sie sprichwörtlich die Haut des Lesers und führt ihn mitten hinein in die weltweite, nie endende Geschichte der Migration: Heute wie gestern? Gestern wie heute? Es sind Fragen, die kommen und gehen, während sie die Kapitel des Buches durchgehen. Die jüdische Migration in Bolivien als Rahmen – die Kulissen und der düstere Hintergrundvorhang aus einer extremistischen Ideologie. Vergangenheit und Gegenwart fast verschmolzen: Wer denkt heutzutage nicht an totalitäre Regierungen? Sie enthüllt auch nebulöse und finstere Aspekte der bolivianischen Geschichte: Die diktatorische Präsidentschaft des Militärs Germán Busch und seine Einwanderungspolitik, den Handel und den guten Umgang mit Pässen; Mauricio Hochschild als der Samariter seiner Landsleute ohne Heimatland: Die bolivianische Ormachea, die den Zinnbaron in den bolivianischen Schindler umbenannte. (Was Philip Roth, den umstrittenen amerikanischen Schriftsteller jüdischer Herkunft, interessiert hätte, der laut darüber nachdachte, wie sich der literatrische Betrieb der Welt ergötzte am Albtraum des jüdischen Volkes und seiner Unterwerfung). Die Details der Entführung des reichen Hochschild, Tatsachen, die sich in Spukszenarien verwandeln, die die Gegenwart bewohnen: Die schreckliche Erkenntnis, dass einige der asozialen Dynamiken des Landes Landes nicht rechtzeitig gestorben sind, nicht einmal mit der Demokratie oder unter humanistischen Vorzeichen. Die Praktiken leben und sind dynamisch geworden. Unterirdische Phantome wie Scheusale, die wachsen. Los infames (Die Infamen) –  wie eine Wunde hier und dort.

    Das Buch kam mir drei Jahre nach seiner Ersterscheinung in die Hände. Ich fing an, es in den letzten Tagen des Jahres 2018 zu lesen, und mir passierte etwas für diese Zeit recht Ungewöhnliches: Ich konnte weder aufhören zu lesen, noch konnte ich es nach sieben Uhr nachts in die Hand nehmen. Niemand will in der Nacht die Gesellschaft von Gespenstern.

    Verónica Ormachea zeigt in Los infames, dass sie eine außergewöhnliche Porträtistin ist, die in der Lage ist, ihre Figuren klar zu zeichnen und Situationen präzise und sinnlich zu beschreiben. Die Erzählung ist zuweilen sogar lyrisch, doch die Autorin lässt den Leser nicht los – sie gibt nichts preis. Kapitel für Kapitel werden wir mit Spannung und Emotionen gefüllt und wollen nur „ein gutes Ende“, obwohl wir wissen, wie alles enden wird. Man sagt, eine gute Geschichte gibt uns Menschen an Stelle von Figuren: Boris, der Pole jüdischer Abstammung, der in La Paz seine Rettung finden wird, seine Brüder und ihr Schicksal. Varinia, die, ohne jüdisch zu sein, ebenfalls zum Opfer wurde; und genauso Hochschild als einfacher Moritz oder Mauricio … es ist unmöglich, nicht alles neu zu überdenken, was man als Bolivianer in der Schule über die Zinnbarone gelernt hat.

    Los infames ist ein Buch aus einer neuen Perspektive über die dunklen Mächte und bitteren Geschichten, die unsere Welt bevölkerten und bevölkern. Wie Milan Kundera im Buch vom Lachen und Vergessen sagte: „Ein historisches Ereignis, das am Ende der Nacht in Vergessenheit geriet, strahlt am nächsten Morgen mit dem Tau der Neuheit …“. Los infames, eine Geschichte, die sich kontinuierlich weiterentwickelt, ohne Raum für Licht und Atem zu lassen, in der Erinnerung gräbt und Gräben der Verwirrung öffnet, bis sie uns dazu bringt, zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu kriechen.

    Verónica Ormachea Gutiérrez
    Los infames
    Verlag: Gisbert & CIA S.A. (La Paz 2017)
    Taschenausgabe, 305 Seiten
    ISBN: 978 99974 878 0 3
    Teresa Torres-Heuchel
    Übersetzung und Anpassung von Texten ins Deutsche: Franziska Sörgel

     

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